Wir wollen in Freiheit leben (Ewald Walker / GEA)

VON EWALD WALKER

PLIEZHAUSEN. Flucht. Längst haben wir uns an Bilder flüchtender Menschen quer durch die Kontinente gewöhnt. Doch hinter jedem Weg in die Freiheit steckt eine besondere Geschichte. Dies ist die Geschichte der Familie Aldroubi, die sich am 10. September 2015 in Damaskus auf den Weg machte, dem Krieg in Syrien zu entkommen. Die Aldroubis: Das sind Vater Faisal (50), seine Frau Abeer (38), die Kinder Amin (18), Mohammed (14), Hala (6) und die vor fünf Monaten in Reutlingen geborene Kristin.

Flucht: Das heißt die Heimat verlassen, oft ohne ein genaues Ziel. Die Aldroubis wollten nach Deutschland, ohne das Land vorher besucht zu haben. Als in der Nacht zum 4. August 2015 Bomben über ihren Heimatort Homs niedergingen, entschied der in Damaskus als Arabisch-Lehrer arbeitende Faisal Aldroubi für seine Familie, das Land zu verlassen. »Wenn wir gehen, dann gehen wir zusammen«, war für Mutter Abeer die Bedingung.

Noch in derselben Nacht begann die atemberaubende Flucht der Familie. Der 17-jährige Amin, der zu diesem Zeitpunkt eigentlich das Abitur machen wollte, fuhr (noch ohne Führerschein) seine Familie im Auto, nahm eine vierköpfige Nachbarsfamilie mit (»Wenn man was Gutes tut, bekommt man Gutes zurück«) und brachte acht Menschen unter Luftangriffen teilweise durch die Wüste nach Damaskus. Der junge Mann hatte eine wichtige Rolle auf der Flucht, große Verantwortung übernommen und ist dabei menschlich sehr gereift. »Wir hatten Angst in diesem Krieg, wollen in Freiheit leben«, sagt der inzwischen 18-Jährige heute, der jetzt in die zehnte Klasse des HAP-Grieshaber-Gymnasiums in Rommelsbach geht.

In der syrischen Hauptstadt Damaskus entscheidet Vater Faisal: Wir verlassen unser Land endgültig. Es ist das Aufbruchsignal für eine 16-tägige Flucht durch neun Länder, die ihr vorläufiges Ende in Pliezhausen findet.

Stationen einer Flucht: Von Damaskus geht es per Bus in den Libanon, von dort per Schiff in die Türkei. Mit einem Gummiboot erreicht die Familie eine kleine Insel in Griechenland. Allerdings brauchen die Flüchtlinge fünf Versuche, um in der Nacht wegzukommen. Das Boot wird von türkischen Polizisten angegriffen und zur Kenterung gebracht. Abeer, die Mutter, ist Nichtschwimmerin und überlebt nur dank einer Schwimmweste.

»Das war der schlimmste Teil unserer gesamten Flucht«, sagt Faisal Aldroubi, der 6 000 Euro für diese Überfahrt bezahlt hatte. Weiter geht es per Bus nach Mazedonien, Serbien, Kroatien, Ungarn. Zwischendurch immer wieder stundenlange Fußmärsche, insgesamt gut 200 Kilometer legen sie so zurück. »Wir haben allein in einer Woche sieben Länder durchquert«, erzählt Faisal.

Flucht: Das heißt, kein Blick zurück, immer vorwärtsgehen. Tagelang hat der Familienvater Tochter Hala auf den Schultern getragen. Der Drang in die Freiheit verleiht große Kräfte und erfordert auch sonst höchsten Einsatz. Um finanzielle Reserven zu mobilisieren, wurde zuhause das Auto verkauft, ebenso der Schmuck der Familie. Die älteste Tochter Suria (22) ist verheiratet und deshalb in Syrien geblieben.

Über Wien kommen die Aldroubis per Zug nach Deutschland. Kaum lange an einem Ort, sind ihre nächsten Stationen Karlsruhe, Heidelberg und Reutlingen. Am 13. April landen sie schließlich in Pliezhausen. »Es ist schön hier«, lächelt Abeer, am reichlich gedeckten Mittagstisch in der Drei-Zimmer-Wohnung. Mit dem Blick auf den Pliezhäuser Kirchturm verbinden die Aldroubis auch Hoffnung auf mehr Ruhe in ihrem Leben.

Flüchtlinge waren in Pliezhausen nicht von Anfang an willkommen. Heftige Diskussion um den Standort einer Sammelunterkunft, Drohungen per Flugblätter und in Briefkästen, an Lichtmasten, bis hin zu Gewaltandrohung gegen Günter Herbig, den Sprecher des Freundeskreises Asyl. Insgesamt rund 70 Ehrenamtliche kümmern sich heute in Pliezhausen um 50 Flüchtlinge. Keine einfache Aufgabe, denn Widerstände sind immer noch und immer wieder spürbar.

Martina Müller und Tanja Schübel nehmen sich syrischer Familien an. Behördengänge, Begleitung zu Ärzten, in die Schulen gehen – Unterstützung im Alltag. Für Tanja Schübel, die die Patenschaft für die Aldroubis unternommen hat, ist dies zeitweise ein Halbtagesjob – ehrenamtlich wohlgemerkt.

»Der Schlüssel zur Integration ist die Sprache«, stellt Schübel klar. Die Kinder nehmen diese Hürde leichter, den Eltern fällt es deutlich schwerer. Der Vater hat in diesen Tagen einen Integrationskurs in Reutlingen beendet. »Ich denke, unsere beiden Söhne werden hier bleiben«, sagt Faisal; »wir Eltern werden, wenn der Krieg beendet ist, in vier, fünf Jahren wieder zurückgehen nach Syrien«. Dann würde sich ein Kreis schließen. Es wäre das Ende ihrer Flucht. (GEA)